Deutsche Gesellschaft für Care und CaseManagement
 
Case Management in den ersten drei Jahrzehnten – das Vorspiel zur DGCC

Case Management in den ersten drei Jahrzehnten – das Vorspiel zur DGCC

Prof. Dr. Wolf Rainer WendtDem Autor des ersten Beitrags zur Geschichte der DGCC ist es wesentlich zu verdanken, dass Case Management in Deutschland aufgegriffen und adaptiert an die Besonderheiten des deutschen Sozialrechts- und Versorgungssystems weiterentwickelt wurde. Wolf Rainer Wendt fasst zusammen, wie und warum das Case Management in den 70er Jahren seinen Anfang nahm und skizziert drei Phasen bis zur Gründung der DGCC 2005.

Den gesamten Beittrag gibt es auch als PDF zum Download.

Einführung

Das Handlungskonzept Case Management hat eine schrittweise Entwicklung durchlaufen. Seit den 1970er Jahren gibt es das Verfahren explizit unter diesem Namen. Seine Evolution hat  mit den Herausforderungen zu tun, welche die Komplexität neuer Aufgabenstellungen angesichts eines sich differenzierenden Hilfesystems, der Rechtsansprüche insbesondere von Menschen mit Behinderungen und der Deinstitutionalisierungskampagne erst in den USA und dann auch in anderen Ländern mit sich brachte. Diese Herausforderungen konnten nur managerial bewältigt werden. Verlangt wurde eine vielseitige und kontinuierliche Bedarfsdeckung und eine Koordination dazu erforderlicher Dienstleistungen.

Wenn wir die Entwicklung von Case Management in ihren wesentlichen Schritten verfolgen und sie ebenenübergreifend – methodisch, organisatorisch, politisch – rekonstruieren, wie ich es seit 1991 versucht habe (Wendt 1991, vgl. Wendt 2014), ergibt sich eine Abfolge in drei Zeitabschnitten während der Jahrzehnte von 1975 bis zur Gründung der DGCC. Dabei wird die Konstellation deutlich, mit der es die Fachgesellschaft seither zu tun hat.

First Generation Case Management

Ihre Ausführungen zur historischen Entwicklung von Case Management beginnen Amado, McAnally und Linz (1989, 1) mit dem Satz: „The Evolution of case management has its roots in
the development of professional social work and publicly-funded human services.“ Für die Ausgangslage, in der das Case Management in den USA auf der Bühne der Sozialen Arbeit
erschien, ist relevant, dass in jenen Jahren das überkommene Case Work, die zentrale Methode der Profession, als ineffektiv kritisiert wurde. Statt sich in erster Linie, wie im Case Work damals üblich, psycho-dynamisch in das Befinden einer Person zu vertiefen, war Umsicht in Lebensverhältnissen und im Hilfesystem gefragt und dazu ein zielführendes, pragmatisches Vorgehen zur Bewältigung vielseitiger Probleme.

Die neuen Anforderungen, die sich der Sozialarbeit stellten, müssen vor dem Hintergrund der Vermehrung und Ausdifferenzierung sozialer Dienste in den 1960er und 1970er Jahren gesehen werden. Das System der humandienstlichen Versorgung erschien zunehmend komplex, fragmentiert und unkoordiniert, so dass man auf organisatorischer Ebene nach mehr Vernetzung, Zusammenführung und Koordination zu streben begann. Der Leitgedanke continuum of care tauchte auf.

In den 1970er Jahren kam die Enthospitalisierung behinderter und psychisch kranker Menschen hinzu. Statt sie weiter stationär unterzubringen, wurden sie entlassen und sollten ambulant Zugang zu sozialen, medizinischen, erzieherischen und anderen benötigten Diensten erhalten. Eine Reihe von legislativen Akten in den USA vom Rehabilition Act 1973 (PL 93-112) bis zum Developmental Disabilities Assistance and Bill of Rights Act 1978 (PL 95-602) verlangte ein advokatorisches Eintreten für in ihrer Entwicklung beeinträchtigte Personen und ihre Begleitung zu Selbständigkeit und Integration sowie die Koordination der Dienste für sie.

In Hinblick auf solche Anforderungen und für eine Versorgung im Gemeinwesen definierte erstmals der Bericht der Joint Commission on Accreditation of Hospitals (JCAH) 1976 Case Management als „activities aimed at linking the service system to a consumer and at coordinating the various system components in order to achieve a successful outcome. The objective of case management is continuity of service.“ (JCAH 1976, 20) Im Kontinuum einer ambulanten Versorgung sollten die für einen Klienten nötigen Dienste zusammengeführt werden. Die  Aufgabe konnten Sozialarbeiterinnen übernehmen, die sich in dem neuen Verfahren kundig machten. Case Management betrifft somit zunächst das Handeln der einzelnen Fachkraft;  weitergehende organisatorische Überlegungen wurden erst einmal nicht angestellt. Meiner Einführung des Begriffs „Unterstützungsmanagement“ lag diese erste methodische Orientierung zugrunde (Wendt 1991).

Mit der quasi handwerklichen Auffassung des Case Managements stand nun allerdings das Verhältnis zu anderen Verfahren in Frage. Insbesondere war das Verhältnis zur Therapie und zur klinischen Sozialarbeit strittig. Im Blick auf die eine oder andere Funktion im Case Management wie Situationseinschätzung, Planung und Heranziehung von Dienstleistungen ließ sich die
Meinung vertreten, ein kompetenter Therapeut könne auch als Case Manager seines Klienten wirken (Lamb 1980). In der Zeit des Psychobooms gab es ein Interesse, das neue Verfahren ins Therapieprogramm einzubeziehen. Das Thema erledigte sich in dem Maße, in dem die Ressourcenerschließungs-, Kooperations- und Koordinierungsaufgaben im Case Management in den Vordergrund rückten. Sie lassen sich nicht im Binnenraum der therapeutischen Beziehung erledigen. Das bedeutet aber nicht den Verzicht auf eine Beziehungsarbeit, in der Rat suchende und Not leidende Menschen sich angenommen fühlen, Vertrauen gewinnen und auf dieser Basis kooperieren können.

Zusammenfassend kann zur ersten Phase der Ausprägung von Case Management festgehalten werden, dass mit ihm in der personzentrierten Sozialen Arbeit eine komplexe Problematik bewältigt werden sollte. In dieser Ausrichtung bekommt es mit dem ganzen System der humandienstlichen Versorgung einerseits und mit dem Leben der Zielpersonen in seinen Wechselfällen und mit seinen Umständen andererseits zu tun.

Second Generation Case Management

Erschien das Handlungskonzept zunächst auf die Vorgehensweise einer professionellen Fachkraft zugeschnitten, stellte sich ein Jahrzehnt später die Organisationsfrage in der Struktur des Leistungssystems. Case Management wurde im angloamerikanischen Raum im Zuge des Strebens nach mehr Effektivität und Effizienz eingebettet in ein von medizinischen und sozialen Leistungsträgern und Leistungserbringern verlangtes Versorgungsmanagement (care management). Im System sollte eine einzelfallbezogene Steuerung erfolgen. Sozialarbeit war in dieser Aufgabenstellung nicht mehr beruflich allein gefragt; sie bekam neben fachlicher Krankenpflege eine Ausführungsfunktion zugewiesen.

Auf die neue Ausrichtung wurde auf politischer Ebene besonders in Großbritannien hingewirkt. Der 1990 beschlossene National Health Service and Community Care Act wies den lokalen Sozialdiensten die Aufgabe der Bedarfsklärung und Hilfeplanung zu und verlangte einen purchaser-provider split im Verhältnis zu den leistungserbringenden Diensten, die nun auf den Erfolg ihres Einsatzes hin zu kontrollieren und evaluieren waren.

Es kommt seither auf die richtige Organisation an. In den USA erfolgte ab etwa 1990 eine weitgehende Gleichsetzung von Case Management mit gesteuerter Versorgung (managed care) im Gesundheitswesen. Im Krankenhausbereich ließ die Veränderung der Finanzierung (nun per Kopfpauschale und DRGs) ein Hospital Case Management entstehen (Bach/Smeltzer/Baler 1996). Es soll den Behandlungsprozess dadurch optimieren, dass er auf die differenzierten Gegebenheiten der Patienten zugeschnitten wird. Für diesen Zuschnitt bot sich die professionelle Krankenpflege an. Sie begann das Case Management für sich zu beanspruchen und ordnete es in die eigene Berufsgeschichte ein (Kersbergen 1996).

Die amerikanische Berufsorganisation der Sozialarbeiter/innen (NASW) begegnete dieser Konkurrenz mit Standards für ein social work case management ab 1992 (zuletzt revidiert 2013). Sie interpretierte es als ein Kernelement der eigenen beruflichen Praxis. Damit identifizierten sich die Fachorganisationen allerdings nicht: Seit 1990 existiert die Case Management Society of America (CMSA), seit 1999 die American Case Management Association (ACMA). Während die CMSA vorwiegend selbständig tätige Case Manager/innen in ihren Reihen hat, sind es
bei der ACMA in stationären Einrichtungen, insbesondere Krankenhäusern, beschäftigte Angestellte. Sie betrachtet es als ihre Mission „to be THE Association for Health Care Delivery System Case Management and Transitions of Care Professionals“.

Das organisationsbasierte Case Management ist nicht mehr zwangsläufig auf den Einsatz zertifizierter Case Manager/innen angewiesen. Die Organisation kann ein Team heranziehen und Fachkräfte mit Teilaufgaben im Verfahren betrauen. In amerikanischen Krankenhäusern erfolgte mit der Ausbreitung von Managed Care eine systeminterne Funktionstrennung im Case Management, indem für die generelle Steuerung der stationären patientenbezogenen Versorgung, also zur Prozesssteuerung, seit 1996 Mediziner als „Hospitalisten“ eingesetzt wurden, denen Case Manager/innen zur Hand gehen (Wachter/Goldman 1996). Die (nicht geschützte) Bezeichnung Case Manager/in lässt sich nicht nur in den USA an jede(n) Mitarbeiter/in vergeben, die von der Organisation für die Ausführung des Verfahrens vorgesehen wird. Die Organisation schneidet sich das Verfahren und die Zuständigkeiten in ihm zurecht. In der Folge
stellt sich die Frage nach Kompetenz und dem Handwerk der individuellen Fallführung neu.

Zusammenfassend ist zur zweiten Phase in der Entwicklung von Case Management festzustellen, dass es in die Strukturen des Gesundheitswesens eingebettet wird und in erster Linie deren Komplexität und Fragmentierung bewältigen helfen soll. Nicht mehr die Probleme von Klienten, sondern die Probleme des Versorgungssystems (Fehlsteuerung, Codierung, Kostensteigerungen im Betrieb und politisch gewollte Kostendämpfung) rücken in den Vordergrund.

Third Generation Case Management

In einer dritten Phase der Entwicklung wird das Case Management zu einem Programm, anwendbar bei Reformen in verschiedenen Feldern des Sozial- und Gesundheitswesens, einschließlich der Beschäftigungsförderung, des Versicherungswesens, des Justizwesens und des Betreuungswesens. Programmatisch will man Komplexleistungen und Kontinuität in der Versorgung mit dem Handlungskonzept erreichen. Man nimmt das Case Management in einem fragmentierten und versäulten System für eine übergreifende, integrierende Versorgungsgestaltung und die Koordinierung der Leistungserbringung in Anspruch. Es findet Platz im sozialrechtlich geordneten Leistungssystem, in Deutschland konkret in den einzelnen Büchern des SGB.

Mit der Funktion des Verfahrens in der Systemsteuerung erweitert sich seine Zuständigkeit in der Vorfeldklärung (outreach) bzw. Inputsteuerung und in der Nachbereitung (Sicherstellung des outcome) bzw. der Rechenschaftslegung (accountability) im Versorgungssystem. Wird eine Fallführung nicht mehr nur für einzelne ausgewählte Fälle vorgesehen, begegnet sie viel mehr Risiken in den unterschiedlichen Fallkonstellationen; ihre Kontingenz und die damit verbundene Unsicherheit treten hervor. Beispielhaft für die programmatische Ausweitung ist der englische National Offender Management Service (NOMS) als Managementsystem im Strafvollzug seit 2005. Case Management wird in verschiedenen Bereichen zur Integration von Versorgung und für Zusammenarbeit im Nebeneinander und Nacheinander von Behandlungen und Maßnahmen herangezogen. Zu den professionell daran Beteiligten kommen die informell Engagierten und Angehörige wie die direkten Adressaten, die aktiviert und motiviert werden und in Eigensorge mitwirken sollen. Insgesamt geht das Case Management in ein
Care Management über bzw. es wird im Rahmen eines solchen Versorgungsmanagements in Funktion gesetzt. Damit gerät wiederum die Verteilung der Kompetenzen im erweiterten organisatorischen und individuellen Case Management in den Fokus der fachpolitischen Diskussion. Welche Rolle übernehmen Leistungsträger, welche die Leistungserbringer oder
von ihnen unabhängige koordinierende Stellen? Wenn ein Case Management von mehreren Seiten erfolgt, kommt es auf die Abstimmung zwischen ihnen auch in den einzelnen Dimensionen des Verfahrens – im Assessment, in der Planung, im Monitoring und in der Evaluation – an, gewissermaßen auf ein „Management des Case Managements“. Sollte bei der frühen Einführung des Verfahrens es selber die Koordinierungsaufgabe erfüllen, wird im Zuge der Entwicklung eine Koordination mehrfacher Fallführung nötig, weil sich jede Seite darauf verstehen will.

Fazit

Nach den ersten Jahrzehnten kann festgestellt werden: Das Handlungskonzept hat an Flexibilität gewonnen, auch an Dehnbarkeit. Es wird als Programm und als Instrumentarium interessengeleitet verschieden wahrgenommen, organisatorisch vereinnahmt und disziplinspezifisch ausgelegt. Mit der Zeit ist das Bedürfnis gewachsen, die Expertise des Case
Managements unabhängig von solchen Vereinnahmungen und Auslegungen in eigenständiger Fachlichkeit zu bestimmen und weiter zu entwickeln.

Fachlichkeit soll das professionelle Vorgehen auch von der Beliebigkeit abheben, in der sich der ungeschützte Begriff Case Management verwenden lässt. Im Englischen bzw. im Amerikanischen kann leichthin von Managen und von einem Management gesprochen werden; dem Alltagsgebrauch dieser Worte lässt sich jede Behandlung eines Falles mit dem Ausdruck „case management“ belegen. Damit sich das Programm und Handlungskonzept Case Management eigenständig behaupten kann, erscheint eine Profilierung seiner Funktion in der Gestaltung von Care an den Schnittstellen von Versorgung und Sorgen geboten und ist eine fachlich ausgewiesene Kompetenz gefragt, die sich in den unterschiedlichen  Anwendungsgebieten und auch ihnen gegenüber bewährt.

Literatur

  • Amado, Angela Novak / McAnally, Patricia L. / Linz, Mary Hubbard: Research Review of Effectiveness of Case Management in the United States. In: Linz, Mary Hubbard / McAnally, Patricia / Wieck, Colleen: Case Management: Historical, Current and Future Perspectives. Brookline Books, Cambridge, MA 1989. S. 1–20.
  • Bach, David / Smeltzer, Carolyn Hope / Baler, Allen J.: Developing a Successful Hospital Case Management System. In: Flarey, Dominick L. / Smith Blancett, Suzanne (eds.): Handbook of Nursing Case Management. Aspen Publ., Gaithersburg, MD 1996. S. 68–79.
  • Joint Commission on Accreditation of Hospitals (JCAH): Principles for Accreditation of Community Mental Health Service Programs. JCAH, Chicago 1976
  • Kersbergen, Anne Liners: Case Management. A Rich History of Coordinating Care to Control Costs. In: Nursing Outlook, 44, 4, 1996. S. 169–172.
  • Lamb, H. Richard: Therapist – Case Managers: More than Brokers of Services. In: Hospital and Community Psychiatry, 31, 11, 1980, S. 762–764.
  • Wachter, Robert M. / Goldman, Lee: The Emerging Role of „Hospitalists“ in the American Healthcare System. In: New England Journal of Medicine, 335, 1996. S. 514–
    517.
  • Wendt, Wolf Rainer: Unterstützung fallweise. Case Management in der Sozialarbeit. Lambertus, Freiburg i.Br. 1991.
  • Wendt, Wolf Rainer: Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung. 6. Aufl., Lambertus, Freiburg i. Br. 2014.